11 November 2021

Chronobiologische Grundlagen zur Arbeitszeitgestaltung

Die rationale Zeitwirtschaft drängt auf eine Beschleunigung der Innovations- und Produktionsprozesse, um Kosten- und Wettbewerbsvorteile zu erzielen. Leitbild dieser Entwicklung ist die „24-Stunden-7-Tage-Gesellschaft". Allerdings stehen derart zeitlich und räumlich entgrenzte Produktions- und Konsumsysteme den biologischen Rhythmen des Menschen entgegen. Mittlerweile hält jeder dritte Beschäftigte den Anforderungen chronobiologisch unangemessener Arbeitsbedingungen nicht stand. Folgen sind chronische Erschöpfungszustände und psychische Gesundheitsstörungen. Beinträchtigtes psychisches Befinden gehört zu den häufigsten Ursachen für mangelhafte Arbeitsleistung. Die als „Hurry Sickness“ bezeichnete Neigung, möglichst viele Aktivitäten gleichzeitig zu tun, fördert die Orientierungslosigkeit und vermindert die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit. Untersuchungen zeigen, dass eine anhaltende Missachtung der biologischen Rhythmen des arbeitenden Menschen dessen Leistungsbereitschaft, Auffassungs- und Konzentrationsfähigkeit, Denkvermögen, Reaktionsgeschwindigkeit und Geschicklichkeit einschränken. Derart ungünstige Voraussetzungen können bei anspruchsvollen Tätigkeiten zu gravierenden Schadensfolgen führen, wie die Reaktorunfälle von Harrisburg (1979) und Tschernobyl (1986), die Tankerunfälle der Matzukaze bei Seattle (1988), der Exxon Valdez vor Alaska (1989) und der Erika vor der bretonischen Küste (1999) beispielhaft belegen. Sie sind durchweg auf menschliches Versagen während des nächtlichen Leistungstiefs zurückzuführen. Hingegen werden Routinetätigkeiten durch eine Störung der biologischen Rhythmik weniger stark beeinflusst.

Biologische Ökonomie der Zeit

Die Notwendigkeit eines linearen Zeitkonzepts in der Arbeitsgesellschaft ist offensichtlich. Dennoch liegt eine „biologische Zeitökonomie“ nahe, um menschliche Leistungsressourcen wirksamer einzusetzen und unerwünschte Leistungsverluste zu vermeiden. Der gegenwärtige Umbruch in der Arbeitsgesellschaft eröffnet die Chance für eine chronobiologische Optimierung der Arbeitsbedingungen. Die schwindende Dominanz der industriellen Arbeitsweise führt dazu, dass immer mehr Beschäftigte über die Möglichkeit einer eigenständigen Zeiteinteilung verfügen. Eine zeitliche Strukturierung von Arbeit, die sich an den biologischen Rhythmen des Menschen orientiert, kann sich positiv auf Befinden, Gesundheit, Arbeitserfolg und Lebenserwartung auswirken.

Rhythmisches System des Menschen

Biologische Rhythmen sind ein Kennzeichen des Lebendigen. Sie finden sich in sämtlichen Bereichen des menschlichen Organismus. Häufig ist sich der Mensch seiner rhythmischen Prozesse nicht bewusst, wenn sie – wie etwa die Nervenaktionen – nicht unmittelbar wahrnehmbar sind. Hingegen kennt jeder die Beklemmung bei unregelmäßigem Herzschlag; ebenso die befreiende Wirkung einer ruhigen, tiefen Atmung. Das rhythmische System des menschlichen Organismus unterliegt lang-, mittel- und kurzfristigen Rhythmen:         

  • Langwellige Rhythmen treten u. a. in Form des Circadianrhythmus (d. h. Tagesrhythmus) auf. Sie finden sich überwiegend im Stoffwechsel. Weitere Beispiele für circadiane Rhythmen sind der zeitliche Verlauf von Blutdruck und Körpertemperatur. Andere langzyklische Vorgänge, wie Entgiftung und Aufbau von Stoff- und Energiespeichern laufen unbewusst ab.        
  • Mittelwellige Rhythmen, deren Zyklen Minuten oder Stunden dauern, betreffen vornehmlich die Herzfunktion und die Atmung, aber auch die Verdauung, den Transport und die Verteilung der Nahrungsstoffe im Körper sowie die Hormonfreisetzung und die Gewebeerholung. Darüber hinaus werden die Aktivitäten des Nervensystems sowie die perzeptiven und kognitiven Leistungen durch einen ultradianen Ruhe-Aktivitätszyklus, den Basic Rest Activity Cycle (BRAC), moduliert.       
  • Kurzwellige Rhythmen haben eine Periodendauer von Millisekunden bis Sekunden. Sie sind die Grundlage des Nerven-Sinnessystems sowie der Wahrnehmungs- und Denktätigkeit.

Rhythmus als Voraussetzung von Gesundheit

Die biologischen Rhythmen stabilisieren die Funktion des Organismus und unterstützen ihn bei Regeneration und Gesundung. Hierzu werden die Frequenzen sämtlicher Rhythmen, die in komplexer Weise miteinander verschränkt sind, aufeinander abgestimmt. Diese Synchronisierung erfolgt im entspannten Zustand des Organismus, bevorzugt während des Schlafes. Sind die biologischen Rhythmen gestört, so fehlt dem Organismus die Fähigkeit zur Regeneration – der Mensch gerät körperlich und psychisch aus dem Gleichgewicht. Die Ausgewogenheit von Aktivität und Entspannung zeigt sich besonders deutlich an der Schlafarchitektur. Beim Schlaf des gesunden Menschen gibt es eine klare Abfolge zwischen längeren, tief entspannten Ruhigschlafphasen sowie den Traum- und REM-(Rapid Eye Movement-) Phasen, in denen ein chaotischer Zustand dominiert. Wird der Organismus unangemessen beansprucht, so führt dies zur Störung dieser Abfolge.

Endogene und exogene Zeitgeber

Die biologischen Rhythmen des Organismus werden durch eine innere Uhr gesteuert. Endogene Zeitgeber sorgen für eine 25-Stunden-Periodizität der inneren Uhr. Je nach Ausprägung der inneren Uhr werden die Menschen in Chronotypen unterschieden: Die „Eulen“ gehen bevorzugt spät zu Bett und haben Schwierigkeiten, morgens früh aufzustehen. Die „Lerchen“ sind früh morgens aktiv, gehen jedoch früher am Abend zu Bett. Darüber hinaus wird die innere Uhr durch exogene Zeitgeber der natürlichen Umwelt auf eine Periodenlänge von 24 Stunden synchronisiert. Zu den wichtigsten exogenen Zeitgebern gehören neben dem Licht die sozialen Kontakte, die Aktivitätsphasen und der Zeitpunkt der Mahlzeiten.

Rhythmus und Leistung

Im circadianen Verlauf unterscheidet man eine ergotrope, leistungsorientierte Phase, die meist von 3 bis 15 Uhr mit Höhepunkt am Vormittag reicht, von einer trophotropen Phase (15 bis 3 Uhr). Hier dominieren Aufbau- und Regenerationsvorgänge. Zwischen 3 und 4 Uhr befindet sich der Organismus in einem absoluten Leistungstief (vgl. Abb. 1). Die nachts erbringbare geistige Leistung eines arbeitenden Menschen ist mit der Leistung nach Alkoholkonsum oder mit der Tagesleistung nach einer schlaflosen Nacht vergleichbar. Die innere Uhr sorgt dafür, dass der Mensch zur Nachtzeit (üblicherweise) nicht aktiv ist, sondern den Schlaf für Regenerationsvorgänge nutzt. Personen, denen Rhythmusverschiebungen besonders stark zusetzen, sind praktisch unfähig, zu ungewohnter Zeit anspruchsvolle Tätigkeiten zu verrichten. Ein weiterer relativer Leistungsabfall ist gegen 15 Uhr zu vezeichnen (sog. Nachmittagstief).

Darüber hinaus werden der tageszeitliche Verlauf der perzeptiven und kognitiven Leistungen bzw. die entsprechenden Verhaltensweisen durch den Basic Rest Activity Cycle (BRAC) beeinflusst. Während einer Zeitspanne von etwa 90 Minuten aktiviert der BRAC den Organismus für jeweils etwa 70 Minuten. In dieser Aktivitätsphase fällt es leicht, die Aufmerksamkeit zu fokussieren und konzentriert an einer Aufgabe zu arbeiten. Anschließend folgen etwa 20 Minuten eines passiven, rezeptiven Zustands. Hier dominieren intuitive und kreative Hirnleistungen. In der passiven Phase werden Anspannungen abgebaut, die Rhythmen neu organisiert, Desynchronisationen ausgeglichen und Ressourcen regeneriert. Dies schafft günstigste Voraussetzungen für die Entfaltung latenter geistiger Fähigkeiten. Empirische Untersuchungen belegen, dass bei regelmäßig entspanntem Organismus die Fähigkeit, Informationen zu verarbeiten und zu behalten, signifikant ansteigt.

Im Arbeitsalltag werden die scheinbaren Tiefs der passiven BRAC-Phasen zumeist ignoriert oder durch Koffeingenuss „überlistet“. Regelmäßige Essens- und Schlafenszeiten werden häufig vermeintlich Wichtigerem geopfert. Während der arbeitende Mensch dadurch Leistungskraft demonstrieren will, erreicht er genau das Gegenteil, indem er die leistungserhaltende Regeneration des Organismus behindert. Zudem verliert der Organismus allmählich die Fähigkeit, von selbst in seine rhythmische Ordnung zurückzufinden. Es ist unmöglich, während eines ganzen Arbeitstages dauerhaft körperliche und geistige Hochleistungen zu erbringen. Wirksamer als eine derartige Non-Stop-Aktivität ist es, die zeitlichen Leistungstiefs innerhalb der biologischen Rhythmik zu respektieren und die Hochphasen für umso bessere Arbeitsleistungen zu nutzen.

Ansätze für eine rhythmische Arbeitsgestaltung

Neben einer Sensibilisierung für biologische Rhythmen erfordert die Integration des Rhythmischen in die linearen Zeitkonzepte der Arbeitsgesellschaft pragmatische Ansätze, um Erkenntnisse der chronobiologischen Forschung im Alltag umzusetzen. Die folgenden Maßnahmen können zu einer ausgewogenen Arbeitsgestaltung beitragen, die individuelle Bedürfnisse mit betrieblichen Anforderungen verknüpft.

Zeitsensibilität

Zeitsensibilität erfordert vom arbeitenden Menschen, sich nicht mehr zu verausgaben, als dauerhaft verkraftet werden kann. Ein wesentliches Kriterium der angemessenen Verausgabung ist die Vielseitigkeit bzw. die Abwechslung der Tätigkeiten. Zeitsensibilität kann bedeuten, zwischen geistigen und körperlichen, zwischen sitzenden und stehenden, zwischen kommunikativen und nichtkommunikativen, zwischen rezeptiven und produktiven Tätigkeiten regelmäßig abzuwechseln. Dies beugt der Gefahr einseitiger Beanspruchung und frühzeitiger Erschöpfung vor. Mischarbeit räumt den Beschäftigten die Freiheit ein, eigenständig zu entscheiden, wie und in welcher Reihenfolge sie Aufgaben bearbeiten. Sie ermöglicht, Arbeiten angemessen über den Arbeitstag zu verteilen. Erst wenn die Gestaltungspotenziale des individuellen Tätigkeitsspektrums ausgeschöpft sind, soll eine Arbeitszeit- und Pausengestaltung auf betrieblicher Ebene einbezogen werden.

Betrieblicher Nutzen rhythmischer Arbeitsgestaltung

Einige Unternehmen setzen die Erkenntnisse der Chronobiologie im Arbeitsalltag erfolgreich um. Sie erkennen, dass sich eine Orientierung an den biologischen Rhythmen positiv auf die Arbeitsproduktivität der Beschäftigten auswirkt, indem Leistungsspitzen im Tagesverlauf für anspruchsvolle Tätigkeiten genutzt und Leistungstiefs durch Ruhe- und Entspannungspausen überbrückt werden. Im Rahmen eines Gesundheitsfürsorgeprogramms ermöglichen Betriebe ihren Mitarbeitern eine mittägliche Entspannungspause, den sog. „PowerNap“. Die Entspannungsphase ergänzt die gesetzliche 30-minütige Ruhepause. Die Beschäftigten verpflichten sich, die zusätzliche Pausenzeit für Entspannungs- bzw. Bewegungsübungen zu nutzen. Während der 20-minütigen Entspannungsphase können sich die Mitarbeiter bei der Zentrale abmelden, ihr Zimmer abschließen und das Telefon umleiten; so werden Störungen vermieden. Je nach persönlicher Präferenz werden die Übungen sitzend auf dem Bürostuhl oder liegend auf einer Bodenmatte ausgeführt. Einige Beschäftigte nutzen anderweitige Möglichkeiten zur Entspannung im Rahmen der regulären Mittagspause. Stieß die unkonventionelle Form der Pausengestaltung bei den Beschäftigten zunächst auf Skepsis, so fand sie rasch eine breite Akzeptanz. Nutzeneffekte der Entspannungspause lassen sich im Gesamtkontext des Gesundheitsfürsorgeprogramms identifizieren:         

  • Hohe Arbeitsproduktivität: In keiner landesweit vergleichbaren Kommune ist die Arbeitsproduktivität der Mitarbeiter – bezogen auf den Tätigkeitsumfang und den Personalbestand – höher.     
  • Hohe Leistungsbereitschaft: Anfallende Mehrarbeit wird von den Mitarbeitern akzeptiert und von den Teams eigenständig organisiert.       
  • Der Krankenstand liegt deutlich unter dem Durchschnittswert deutscher Kommunalverwaltungen.        
  • Aufgrund gegenseitiger Wertschätzung und Gesundheitsfürsorge besitzen die Betriebe eine hohe Beschäftigungsattraktivität für ihre Mitarbeiter und Auszubildenden.        
  • Die Leistungs- und Gesundheitsorientierung der Mitarbeiter trägt zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsqualität bei.

Fazit

Vielfältige Erkenntnisse belegen die leistungs- und gesundheitsförderlichen Effekte einer chronobiologischen Arbeitsgestaltung, die biologische Rhythmen des Menschen einbezieht. Dennoch treffen derartige Gestaltungsansätze in den Betrieben bislang häufig auf Unverständnis. Vor dem Hintergrund der sich historisch entwickelten Arbeits- und Zeitkultur erscheinen regelmäßige Phasen der Passivität und Regeneration während der (bezahlten) Arbeitszeit ungeeignet, um dem Produktivitäts- und Rentabilitätsanspruch der Unternehmen zu genügen. Zudem orientiert sich das individuelle Zeitbewusstsein üblicherweise an äußeren Anforderungen der Tätigkeit, und weniger an den inneren Rhythmen des menschlichen Organismus. Der Wandel hin zu eigenständigeren und flexiblen Arbeitsformen und der zunehmende Anteil geistiger Tätigkeiten legen nahe, die Arbeitsbedingungen stärker an den biologischen Leistungsvoraussetzungen des arbeitenden Menschen auszurichten. Unternehmerische Erfolge beruhen vornehmlich auf den kreativen Leistungen und dem Engagement der Mitarbeiter. Das chronobiologische Grundprinzip der Kreativität ist jedoch nicht die Geschwindigkeit – wie zuweilen angenommen wird –, sondern der Rhythmus.

-Wichtige Quelle des Artikels: Frauenhofer Institut -

Ich freue mich, Sie in meinem Workshop (hier gibt es alle Informationen dazu) begrüßen zu dürfen.


11 November 2021